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  • Anna Tsybko

Charkiw — Umgeben von den halb zerstörten Gebäuden ihres Viertels in Charkiw muss sich Antonina nun mit einer neuen Kriegsrealität auseinandersetzen.

Das Wohnhaus, in dem Antonina bis heute lebt, wurde in den ersten beiden Monaten der groß angelegten russischen Invasion im Jahr 2022 unerbittlich bombardiert und hinterließ bei seinen Bewohnerinnen und Bewohnern Dunkelheit und Verzweiflung.

„Unsere Nachbarschaft wurde seit dem ersten Kriegstag beschossen, und der Beschuss hatte zwei Monate lang nicht aufgehört. Meine Nachbarn und ich lebten praktisch im Treppenhaus ohne Strom oder Gas“, erzählt sie.

Charkiw, eine Stadt mit fast zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, liegt 80 km von der russischen Grenze und etwas mehr als 100 km von der aktuellen Frontlinie entfernt. Genau wie die Nachbarschaft von Antonina sind viele seiner Wohnviertel Ziel unzähliger Angriffe geworden. Die einst belebten und friedlichen Stadtteile zeugen heute von den verheerenden Auswirkungen des Krieges und kämpfen mit Zerstörung und Verlust. „Unser Gebäude wurde am 26. März [2022] getroffen“, erzählt Antonina. „Die meisten Fenster und Balkone wurden zerstört und Glas zersplitterte.“

Das Wohnhaus, in dem Antonina wohnt. Foto: IOM/Anastasia Rudnieva

Bevor IOM mit Unterstützung der Europäischen Union neue Fenster in Antoninas Wohnhaus einbaute, versorgten die Behörden von Charkiw die Bewohnerinnen und Bewohner mit Spanplatten, die die Wohnungen vor Feuchtigkeit und Kälte schützten. Es stellte jedoch ein weiteres Problem dar: Die Menschen befanden sich in völliger Dunkelheit ohne Strom oder Gas, da auch die Versorgungsleitungen beschädigt waren. Die Lebensbedingungen seien bei den kalten Temperaturen unerträglich gewesen, sagt Antonina. Viele verließen ihre Häuser und suchten Zuflucht in anderen Teilen der Ukraine oder im Ausland. Antonina war entschlossen zu bleiben.

Antonina steht vor einem neu eingebauten Fenster in ihrem Wohnhaus. Foto: IOM/Anastasia Rudnieva

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich diesen Ort verlassen könnte“, sagt sie. „Als meine Nachbarinnen und Nachbarn wegzogen, baten sie mich, ihre Tiere zu füttern und Gassi zu führen. Ich habe viele Schlüssel, nicht nur für die Wohnungen in meinem Gebäude sondern auch für die Nachbarwohnungen.“ Jetzt, da in ihren Taschen Dutzende Schlüssel stecken, ist Antonina praktisch zur Verwalterin ihres halb verlassenen Gebäudes geworden.

Die zahlreichen Schlüsselsätze, die Antoninas Nachbarn ihr hinterlassen hatten, damit sie ihre Haustiere füttern konnte. Foto: IOM/Anastasia Rudnieva

In ihrer Jugend war Antonina Krankenschwester und überwachte die Gesundheit von Astronauten in Baikonur — einer Weltraumstartanlage in Kasachstan. Jetzt nutzt sie ihre Erfahrung als Krankenpflegerin, um denjenigen zu helfen die geblieben sind aber gefährdet sind, einschließlich älterer Menschen mit Krebs die allein gelassen wurden. „Nicht weit von diesem Haus entfernt lebt eine Frau die 93 Jahre alt ist. Sie ist mir völlig fremd, aber sie hat sonst niemanden. Ich kümmere mich jetzt um sie“, sagt Antonina.

Ihr pflegerischer Hintergrund erwies sich auch bei der Bewältigung von Notfällen als von unschätzbarem Wert. Antonina half dem Hausmeister ihres Gebäudes und leistete Erste Hilfe, als er bei der Rettung streunender Katzen und Hunde während des Beschusses verletzt wurde: Sechs seiner Rippen waren gebrochen und erforderten sofortige medizinische Hilfe. „Ich bin Krankenschwester, das heißt, ich habe den hippokratischen Eid abgelegt: Ich habe versprochen, Menschen zu helfen“, sagt sie.

Ein durch eine Druckwelle beschädigtes Gemeinde- und Sportzentrum in Charkiw, Januar 2024. Foto: IOM/Anastasia Rudnieva

„Ich bin stark, aber ich bin nicht die Einzige. Es gibt viele Menschen wie mich, besonders unter den ukrainischen Frauen.“

Doch Antoninas Stärke ist nicht ohne Ängste: „Meine größte Angst ist, dass wir ohne Unterstützung dastehen. Es ist einfacher alles durchzustehen wenn man weiß, dass einem in schwierigen Zeiten jemand hilft und man nicht allein gelassen wird, allein mit deiner Trauer.“

Während sie in die Zukunft blickt, hofft Antonina auf Frieden und stellt sich eine Feier vor, ein Treffen der Heimkehrerinnen und Heimkehrer und derjenigen, die den Krieg in Charkiw ertragen mussten. „Nach dem Krieg möchte ich das Haus renovieren und alle zu einer Feier einladen. Wir müssen daran glauben, dass bessere Zeiten kommen werden. Es ist unmöglich, ohne diesen Glauben zu leben“, sagt sie und spiegelt damit ein Gefühl wider, das nicht nur in Charkiw nachhallt sondern in allen vom Krieg heimgesuchten Regionen der Ukraine.

IOM installierte mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union neue Fenster, reparierte das Dach und die Gemeinschaftsräume im Gebäude von Antonina und sorgte so für bessere Lebensbedingungen und Schutz vor widrigen Wetterbedingungen. Seit Beginn des umfassenden Krieges ist die Europäische Union nach wie vor einer der wichtigsten humanitären Unterstützer in der Ukraine und ermöglicht es IOM, ihre sektorübergreifende Hilfe für die am stärksten vom Krieg betroffenen und vertriebenen Menschen auszuweiten. In der Ukraine sind etwa 18 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dementsprechend priorisiert das von der EU finanzierte IOM-Projekt Aktivitäten in den am stärksten betroffenen Gebieten der Ost- und Südukraine.

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